Es ist so gut, wieder hier zu sein! Doch wer hätte gedacht, dass wir uns im Schatten eines unfassbaren Krieges treffen würden?
Shinnyo-En hat ein kleines Gemeindezentrum im Herzen von Kjiv, doch die Mitglieder der Gemeinde leben nun über halb Europa verstreut – oder in einer vom Krieg zerrissenen Heimat. Wenn ich – heute – hier – an diesem schönen und sicheren Ort über Krieg und Frieden und über Glauben spreche, dann in tiefster Demut gegenüber allen Menschen, die jetzt Krieg erdulden müssen oder in der Vergangenheit ihr Leben hingaben für die friedliche Welt, in der wir jetzt leben dürfen.
Der Titel des heutigen Friedensgebetes fragt nach der Verantwortung der Religionen für eine friedliche Welt.
Es gehört wohl zur Tragik der Menschheit, dass Religionen – die Frieden und Erlösung bringen sollten – weithin als etwas angesehen werden, dass zum Leid dieser Welt beiträgt. Manche sagen sogar: Diese Welt wäre ein besserer Ort ohne Religionen. Dem kann ich nicht zustimmen.
Natürlich kann man Religion missverstehen als weltfremde Erzählung von der Erschaffung einer idealen Welt – und sogleich beklagen, dass diese Welt – trotz oder wegen ihrer Religionen – so weit von einem Paradies entfernt ist.
Und natürlich kann man auch fragen, warum die Welt so schrecklich ist – man wird unzählige Antworten finden … und letztlich an ihnen verzweifeln.
Man kann aber auch fragen: Warum ist die Welt überhaupt so gut wie sie ist? Und dann wird man entdecken, dass es auch eine heilige Geschichte der Menschheit gibt, wie sie ein großer Philosoph einst nannte – die berührende Geschichte von Weisheit und Barmherzigkeit, die letztlich immer alles Dunkle überwunden hat.
Wie entstanden die tiefen Wurzeln all des Guten in uns und um uns herum, wenn nicht aus dem Glauben, aus Gebet und Religion?
„Mensch sein weißt immer über sich selbst hinaus auf etwas Größeres.“ So sagte es der große Denker und Mensch Viktor Frankl, der die Gräuel des Holocaust durchlebte. Und folgende Worte sprach ein Mensch, der als Wissenschaftler die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengte: Albert Einstein.
Der Mensch erlebt sich selbst als etwas, das vom Rest des Universums getrennt existiert, dies ist eine Art optischer Täuschung des Bewusstseins. Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis für uns (…).
Unser Bestreben sollte es sein, dass wir uns aus diesem Gefängnis befreien, indem wir den Kreis unserer Barmherzigkeit ausweiten, um alle fühlenden Wesen und die gesamte Natur in ihrer ganzen Schönheit zu umhüllen.
Vielleicht erscheint das unmöglich, doch sich genau darum zu bemühen, ist bereits ein Teil der inneren Befreiung und Fundament für innere Erlösung.“
Was, so möchte ich fragen, schenkt solche Weisheit, wenn nicht Glauben und Religion? Ich möchte Ihnen von Siddharta erzählen, von jenem Menschen, der vor 2.500 Jahren zum Buddha wurde: Es hat eine tiefe Bedeutung, dass er als Sohn eines Königs geboren wurde. Als König wäre er selbst eines Tages Herr über Freude und Leid, über Krieg und Frieden geworden. Doch erkannte er, dass alles weltliche Wissen und Wollen – ja sogar absolute Macht – letztlich begrenzt und vergänglich sind.
So suchte er als Geistlicher, als Heiliger nach einer höheren Wahrheit. Er erlangte höchste Erleuchtung und erkannte die tiefgründigen Gesetze dieses Universums: die allumfassende Verbindung aller Phänomene und Dinge, das Prinzip von Ursache und Wirkung und den Weg zur Erlösung aus dem Leid.
Buddhismus lehrt, wie wir als Menschen auf die Realität dieser Welt antworten können, um das Gute in uns selbst und den Frieden in der Welt entstehen zu lassen.
So verstehen wir das Wesen von „Religion“.
Das Wunder des Menschseins entfaltet sich nicht in Wissen und Können allein, sondern in seinem Streben nach Frieden und seiner selbstlosen Sorge um den Nächsten. „Menschsein“ ist kein biologisches Privileg, es ist eine Mission. Nur der Mensch kann über sich selbst hinauswachsen und so zu seinem wahren Selbst erwachen.
Wer oder was sollte solches Denken und Tun vermitteln, wenn nicht Religion. Ihre Heiligkeit Keishu Shinso Ito, Oberhaupt des Shinnyo-Buddhismus, erklärte, dass Weltfrieden aus zwei „Dimensionen“ besteht: der globalen Dimension von Politik und Diplomatie … und der individuellen Dimension der Harmonie zwischen zwei Menschen. Internationale Friedensordnungen und Verträge mögen hoffentlich eines Tages zu einem festen Netz werden, dass diese Welt zusammenhält. Doch die Knoten, die dieses Netzes erst bilden – das können nur unsere friedlichen Herzen sein.
Kein Akt der Nächstenliebe – so klein er auch sein mag – ist jemals verschwendet. Wir sollten nicht darauf warten, dass eines Tages das Gute die Welt beherrscht. Herrschaft ist nicht das Wesen von Güte, sie will im Herzen erweckt werden: Denn Güte ist unsere eigentliche, unsere wahre Natur.
Im Buddhismus nennen wir sie „Shinnyo“.
Der Begründer des Shinnyo-Buddhismus, Kyoshu Shinjo Ito, fasste all das in diesen Worten zusammen: „Es geht nicht allein um die Frage, ob Weltfrieden erreicht wird. Es geht darum, im Hinblick auf dieses große Ziel an sich selbst zu arbeiten und das eigene Ich zu polieren. Solches Bemühen macht unser Leben als Menschen, die sich um spirituelles Erwachen bemühen, wahrhaft bedeutsam.“
Wem von uns ist die Macht gegeben, in dieser Welt einen großen Konflikt zu beenden? Doch … ist nicht uns allen die Kraft geschenkt, einen kleinen Frieden zu beginnen? Wie wäre es, wenn wir heute damit beginnen?
Vielen Dank, dass ich diese Gedanken mit Ihnen teilen durfte!